Wer einmal mitgegangen ist, den hat es gepackt

Wer einmal mitgegangen ist, den hat es gepackt


Auf Wallfahrt zur „Trösterin der Betrübten” nach Kevelaer

Das Hemd klebt am Oberkörper, Schweiß rinnt von der Stirn: Hans G. wischt ich mit einem Taschentuch über das gerötete Gesicht. Seine Füße schmerzen – noch zwei Kilometer, dann kann er eine Stunde rasten. Hans G. ist einer von 1.000 Pilgern, die sich an diesem spätsommerlichen Samstag von Bocholt aus auf den Weg nach Kevelaer zur „Trösterin der Betrübten” gemacht hat.

In aller Herrgottsfrühe haben sie sich vor der St.-Georgs-Kirche in Bocholt getroffen, ihr Gepäck im Begleitwagen verstaut und sich auf Partnerrsuche begeben: Die meisten haben die dreitägige Fußwallfahrt schon einmal mitgemacht und treffen alte Bekannte wieder. In Zweierreihen stellen sie sich auf – die Frauen vorn, die Männer hinten. „Wunderschön prächtige, hohe und mächtige ...” stimmen die Männer an. Die Wallfahrt hat begonnen. Von jetzt an geht nichts mehr ohne das grüne Pilgerbüchlein: Wann gerastet wird, welches Lied auf welches Gebet folgt, wann die Männer singen dürfen, wann die Frauen – alles ist ganz genau festgelegt.„Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes ...”. Jede Perle des Rosenkranzes steht für ein Gebet. In den Dörfern, durch die die Wallfaherer kommen, bleiben die Menschen am Wege stehen, schauen dem Pilgerzug zu. Manche beten mit.

Mittags treffen die Pilger in Marienbaum ein. Sie haben bereits 32 Kilometer zurückgelegt. Hinter Kreuz und Fahnen ziehen sie singend in die geschmückte Kirche. Glocken läuten – für den Wirt der gegenüber liegenden Gaststätte das Signal, mit dem Zapfen zu beginnen. In der nächsten halben Stunde dreht er den Zapfhahn nicht mehr zu: An der Theke herrscht Hochbetrieb – „Bier gegen den Durst, Korn für den Kreislauf”. Proviant haben die meisten von zu Hause mitgebracht.

Großer Andrang auch bei den Sanitätern: Im Hinterzimmer des Lokals schneiden sie Blasen auf, salben und verbinden wunde Füße. Wem die Hitze zu schaffen macht, der bekommt ein Stärkungsmittel. Johannes J., der die Bocholter seit Jahren als Sanitäter begleitet, zeigt auf den Medikamentenkoffer: „Jedes Jahr brauchen wir rund 2.500 Meter Verband”. „Blasen und Muskelkater gehören eben dazu” wirft Gerda S. ein – und verzieht ein wenig das Gesicht, als der Sanitäter ihre Blasen aufsticht.

Die Ordner mahnen zum Aufbruch. „Pünktlichkeit ist das A und O bei einer Fußwallfahrt”, sagt Horst W., der die Bocholter Prozession organisiert hat. „Ohne Zeitplan kämen wir nicht nach Kevelaer.” Wieder nimmt jeder seinen festen Platz ein. „Ich will dich lieben, meine Stärke ...”. Der Zug setzt sich in Bewegung. Bald sind die Häuser von Marienbaum außer Sicht.

Annette, die gerade mit der Ausbildung fertig geworden ist und eine Arbeitsstelle sucht, geht zum fünften Mal mit: „Beim Laufen kann ich alle überflüssigen Gedanken ausschalten, mich ganz auf das konzentrieren, warum ich hier bin”. Ihre Freundin Waltraud pflichtet bei: „Es ist wie bei einer Meditation: Man wird innerlich ganz ruhig. Hier kann ich mich selbst finden”. Christa B. ist Hausfrau und vierfache Mutter: „Als die Kinder klein waren, habe ich zehn Jahre lang ausgesetzt. Seit ich wieder mitgehen kann, freue ich mich das ganze Jahr darauf, drei Tage aus dem alltag raus zu sein”. Hildegard V. geht schon von Kindesbeinen an mit. Sie weiß, dass die Anstrengung hinterher vergessen ist: „Allein würde ich es wohl nicht schaffen. Sportlichen Ehrgeiz habe ich nicht”. Lachen ringsum – auch Fröhlichkeit gehört zu Wallfahrt.

Am Abend dann der Einzug in Kevelaer: Geschäftstüchtige Fotografen warten mit gezückter Kamera am Ortseingang, um den feierlichen Moment für das Familienalbum auf Zelluloid zu bannen. Der Pilgerzug nähert sich dem Kapellenplatz: „Viel deiner Schäflein sind nun angekommen” singen die Männer. „Sünder und Büßer, wie auch viele Frommen” kommt es von den Frauen. Nach und nach füllt sich die Marien-Basilika. Kreuz- und Fahnenträger stellen sich hinter dem Altar im Halbkreis auf. Der Organist spielt „Großer Gott, wir loben dich”. Manchen laufen doe Tränen über das Gesicht.

Später - vor der Kirche - steht Agnes V. noch mit Freunden zusammen. „Die körperliche Erschöpfung und die Freude, am Ziel zu sein, müssen irgendwie heraus”, sagt sie. Obwohl die Füße schwer wie Blei sind und der Magen knurrt, mag man sich noch nicht trennen. „Wer einmal mitgegangen ist, den hat es gepackt”, sagt Heinrich K., der es wissen muss: Er ist zum 50. Mal dabei.

Martina Ledwa (KNA), August 1987